In dem folgenden Lebenslauf und der Biografie stellt uns Markus Nau anhand von Lori die gendergerechte Pädagogik vor. Er ist Erzählkünstler, Schauspieler, Sozialpädagoge, Master of Arts, Trainer an der Goldmund Erzählakademie und Dozent an der Hochschule München und der katholischen Stiftungshochschule München. Als Erzähler vereint er seine Berufungen auf der Bühne. Im Kontakt mit Menschen und in der Ausbildung von Studierenden und Fachkräften fühlt er sich wohl und ist voller Begeisterung beim Erzählen für und mit Kindern.
Lori wird geboren. Lori hat Eltern. Es mag sein, dass Loris Eltern eine Frau und ein Mann sind. Es mag sein, dass Loris Eltern eine Frau und eine Frau sind oder es mag sein, dass Loris Eltern ein Mann und ein Mann sind. Loris Eltern leben zusammen oder leben getrennt.
Lori wird einen Namen bekommen und es ist sehr wahrscheinlich, dass Lori einen Namen bekommt, der Loris Geschlecht als Mädchen oder als Junge preisgibt. Sollte Loris Name nicht eindeutig dem zugeschriebenen Geschlecht entsprechen, wird Lori sich wahrscheinlich das ganze Leben für den Namen rechtfertigen müssen.
Fremde Menschen, die Lori sehen, werden die Eltern oft fragen, ob Lori denn ein Mädchen oder ein Junge ist. Außer wenn Lori einen entsprechenden Babystrampler trägt. Die Farbe verrät schnell, welchem Geschlecht Lori zugeordnet wird.
Lori bekommt Spielsachen geschenkt. Viele dieser Spielsachen entsprechen den Rollenerwartungen, die an Loris zugeschriebenes Geschlecht gestellt werden. Loris Verhalten wird dann oftmals als „wilder Junge“ oder „feine Prinzessin“ gelobt werden und Lori lernt schnell, welches Verhalten welche wohlwollenden Reaktionen bei den Bezugspersonen auslöst.
Lori wird älter und kommt irgendwann in eine KiTa oder einen Kindergarten. Lori wird schnell merken, dass es hier zwei Gruppen von Kindern gibt. Jungen und Mädchen. Und ab jetzt sind es nicht nur die Erwachsenen, die Lori durch ihr Verhalten, ihre Worte und Reaktionen zeigen welchem Geschlecht Lori zugehörig ist. Ab jetzt wird Lori auch durch die anderen Kinder als Mädchen oder als Junge angesprochen werden. Vielleicht kann sich Lori mit dem zugeordneten Geschlecht identifizieren, vielleicht spürt Lori aber auch, dass Lori anders fühlen, spielen, sich bewegen möchte als es dem Geschlecht zugeschrieben und zugestanden wird. Lori lernt wer wen lieben darf. Ein Junge ein Mädchen und ein Mädchen einen Jungen. In Märchen und Geschichten wird Lori immer wieder darauf hingewiesen, welche Rolle Jungen und welche Rollen Mädchen einnehmen.
In der Schule wird Lori auf Erstlesebücher stoßen, die extra Geschichten für Jungen und extra Geschichten für Mädchen enthalten werden. Die Wahl des Spielzeuges, der T-Shirt-Motive und die bevorzugten Hörspiele wird Lori oftmals entsprechend der gleichgeschlechtlichen Gruppe auswählen. Grenzüberschreitungen können Lori den Status in der Gruppe kosten.
Im Grundschulalter und dann im Jugendalter wird für Lori die soziale Integration in die Gleichaltigengruppe von immer größerer Bedeutung. Die Anpassungsleistung an die jeweilige Gruppe sichert Zugehörigkeit und Teilhabe am sozialen Leben der Peergroup. Lori wird sich an Rollenerwartungen bzgl. des Geschlechts, der sexuellen Identität und Geschlechterhierarchien orientieren. Für Lori wird es von großer Bedeutung sein, entsprechend der Peergroup als „Normal“ zu gelten. Schimpfwörter und Beleidigungen zeigen hierbei, was verboten ist. „Sei nicht unmännlich“, „sei keine Mann-Frau“, „sei nicht schwul“, „sei keine Schlampe“, „sei nicht prüde“ … Lori wir sich verlieben. Ob Lori zeigen kann, in wen Lori verliebt ist, hängt davon ab, ob Lori es überhaupt zugestanden wird, eigene Gefühle zu zeigen, dies wird bestimmt sein durch Loris familiäres und soziales Umfeld. Ob Lori zeigen kann, dass sich Lori gleichgeschlechtlich verliebt, wird von Lori oftmals viel Mut und Kraft verlangen.
In Medien wird Lori auf Darstellungen von Männern und Frauen stoßen, auf Darstellungen vom Umgang der Geschlechter miteinander und Hierarchien der Geschlechter. Lori wird Vorbilder in TV, Internet und Musik finden. Und Lori wird auf die pornografische Darstellungen von Sexualität treffen, die oftmals von Unterwerfung der Frauen zur Befriedigung männlicher Lust geleitete sind, nicht selten mit Gewaltdarstellungen.
Zum Ende der Schulzeit wird sich Lori für eine berufliche Ausbildung oder ein Studium entscheiden. Auch wird Lori schnell erfassen für welches Geschlecht, welcher Beruf gesellschaftlich als der geeignete angesehen wird. Lori wird es leichter haben, einen dem Loris Geschlecht zugeordneten Beruf zu wählen. Als Frau wird sich Lori in einigen Berufsfeldern starken „männlichen“ Normen und Verhaltensweisen anpassen müssen und sich als Frau besonders beweisen müssen. Als Mann wird Lori in weiblich zugeordneten Berufsfeldern nach Außen hin oftmals seine „Männlichkeit“ rechtfertigen müssen.
Lori wird arbeiten und Geld verdienen, wird finanziell unabhängig von der Herkunftsfamilie vielleicht eine eigene Familie gründen. Vielleicht wird dies eine Familie aus Frau, Mann und Kind sein. Vielleicht wird es eine Patchworkfamilie sein, vielleicht wird es eine Regenbogenfamilie sein. Und vielleicht wird Lori selber ein Elternteil werden und vielleicht erzieht Lori die Kinder geschlechtergerecht….
Der Lebenslauf von Lori ist in vielen Stationen institutionell vorgegeben, Familie, Kita, Schule und Ausbildung. Erwerbsarbeit und dann die Ruhestandsphase. Auch sind gesellschaftlich die geschlechtlichen Rollenerwartungen vorgegeben. Und dies sind weiterhin die Einteilungen in Mann und Frau und heteronormativ. Lori wird auf eine pluralisierte Gesellschaft treffen, in der das einzelne Subjekt freigesetzt ist und auf andere individualisierte Subjekte treffen. Neben einer hegemonialen Geschlechterhierarchie wird Lori auf andere Modelle von geschlechtlichen und sexuellen Identitäten treffen, auf andere Modelle von Geschlechterhierarchie oder Gleichstellung.
Geschlechtergerechte Pädagogik möchte es Lori schon von der Geburt an ermöglichen, dass Lori als Lori angesprochen wird, Loris Verhalten nicht geschlechtlich zugeschrieben und bewertet wird. Es soll Lori ermöglicht werden, dass Lori möglichst viele Spielanregungen erhält, unter denen Lori frei nach persönlicher Vorliebe auswählen kann. Gendergerechte Pädagogik möchte Lori mit Geschichten verwöhnen, die eine Vielfalt von geschlechtlichen Realitäten abbildet, in denen jeder Mensch frei alle Rollen und Emotionen leben kann. Geschlechtergerechte Pädagogik möchte geschlechtliche und sexuelle Identitäten in ihrer Vielfalt als Normalität erfahrbar machen, so dass Lori den eigenen Gefühlen und Begehren folgen kann, ohne Angst zu haben. Es soll Lori möglich sein, ein möglichst großes Spektrum an beruflichen Optionen kennen zu lernen, mit Frauen und Männern als Rolemodel in jedem Beruf. Lori soll es durch geschlechtergerechte Pädagogik möglich sein, Medieninhalte kritisch zu bewerten, Sexualität frei und gleichberechtigt erfahren und leben zu können und eine selbstbestimmte Form von Familie in Betracht zu ziehen. Lori soll durch geschlechtergerechte Pädagogik befähigt werden, Kinder geschlechtergerecht in ihrem Aufwachsen zu begleiten.