Geschlechtergerechtes Arbeiten – Warum eigentlich?

Ein Kind im Regenbogenpulli schaukelt auf einer Hängematte.

Ein Artikel von Mina Mittertrainer

Eine Einführung in gesellschaftsrelevante Grundlagen der Geschlechterpädagogik

Geschlechtergerechtes Arbeiten, Genderpädagogik, Sensibilität für Diversität – das sind Begriffe, die auch in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stetig an Bedeutung zu gewinnen scheinen. Während der Geschlechterfokus von manchen Personen als wichtige Ergänzung in die eigene Arbeit integriert wird, gibt es auch Gegenreaktionen, die die Relevanz dessen in Frage stellen. Im Folgenden möchte ich daher ausgehend von der aktuellen gesellschaftlichen Lage von Männern und Frauen darlegen, warum die geschlechtergerechte Pädagogik ein wichtiger Baustein ist, um gegen Ungleichheiten vorzugehen. Die (bezahlte) Arbeit als „zentraler Modus der Verteilung von Anerkennung sowie von Ressourcen“ (Villa 2009:116 f.) steht dabei im Fokus der Darlegungen, da dort vorwiegend die Grundlage sowohl für die finanzielle Lage als auch das Selbstwertgefühl und die Identitätsbildung von Personen innerhalb unserer Gesellschaft (vgl. Waters, Moore 2002) geschaffen wird.

Frauen und Männer sind in Deutschland formal und rechtlich gleichgestellt – das ist sogar im Grundgesetz verankert: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“ (Art. 3 Abs. 2). Diese Gleichberechtigung zeigt sich auch in weiteren Gesetzesbeschlüssen über die letzten 100 Jahre hinweg. So dürfen Frauen in Deutschland seit 1919 wählen und sich zur Wahl aufstellen lassen; seit 1976 dürfen Frauen ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns arbeiten gehen; und seit 1988 ist eine ungleiche Entlohnung von Frauen und Männern für dieselbe Arbeit gesetzeswidrig. Diese rechtlichen Entwicklungen hatten Einfluss: So sind heute ca. 73% aller deutschen Frauen erwerbstätig (bei den Männern sind es 81%) und machen damit 46% der erwerbstätigen Bevölkerung aus (Bundesagentur für Arbeit 2018). Die Frauenerwerbsquote ist in den letzten Jahrzehnten dabei kontinuierlich angestiegen, weshalb viele Personen eine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern bereits als gegeben annehmen.

Problematisch ist jedoch, dass in diesen Statistiken verschiedene anhaltende Ungleichheitsfaktoren unsichtbar bleiben. So lässt sich der kontinuierliche Anstieg der Frauenerwerbsquote fast ausschließlich auf die Quote der in Teilzeit arbeitenden Frauen zurückführen, während der Anteil der in Vollzeit beschäftigten Frauen weitgehend konstant blieb. Heute arbeiten ca. 47% der erwerbstätigen Frauen in Teilzeit (bei den Männern sind es ca. 11%), was nicht nur mit einem geringeren Lohn einhergeht, sondern auch geringere Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten in der Karriere mit sich zieht. Diese hohe Teilzeitquote lässt sich wohl darauf zurückführen, dass Frauen (vor allem in heterosexuellen Paarbeziehungen) auch weiterhin für den Großteil der unbezahlten Sorge- und Hausarbeit verantwortlich sind. Frauen übernehmen aktuell ca. 1,6 mal so viel Hausarbeit und sogar 2,4 mal so viel Fürsorgearbeit wie Männer, die nach der Geburt eines Kindes ihr bezahltes Arbeitspensum oft noch erhöhen (Gleichstellungsbericht 2017). Die Ausübung unbezahlter Haus- und Sorgearbeit ist also ein Faktor, der die berufliche Weiterbildung und Verwirklichung von Frauen erschwert.

Eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam auf Sofas um einen Tisch sitzen und diskutieren.
47% der erwerbstätigen Frauen arbeiten in Teilzeit. Bei Männern sind es nur 11%.
Quelle: pixabay.com

Ein weiteres Problem liegt in der sogenannten horizontalen und vertikalen Segregation des Arbeitsmarkts, also in geschlechtlich induzierten Ungleichheitsstrukturen in der Arbeitswelt. Die horizontale Segregation des Arbeitsmarkts beschreibt die Unterscheidung ‚typischer Männer- und Frauenberufe‘, in denen jeweils ein Geschlecht deutlich überrepräsentiert ist. Diese Teilung geht auch mit einer starken Wertung einher, wobei typisch ‚weiblich‘ geprägte Berufe systematisch als weniger anspruchsvoll und relevant gelten, eine schlechtere Bezahlung aufweisen (vgl. Wetterer 2005:65) und häufiger auf Basis befristeter Verträge ausgeübt werden (vgl. Gleichstellungsbericht 2017:30). Diese finanzielle Abwertung als ‚weiblich‘ geltender Berufe wie auch geringere Aufstiegschancen in diesen Feldern gelten als eine Teilerklärung für den Gender Pay Gap (vgl. u.a. Leuze, Strauß 2016, s. auch weiter unten). Der Begriff der vertikalen Segregation bezeichnet eine geschlechtliche Trennung nach Ranghöhe und Einfluss innerhalb einer Branche. Obwohl Frauen häufiger als Männer ihr Abitur machen, stoßen viele im Berufsleben an eine sogenannte ‚Glass Ceiling‘, die den Aufstieg in Führungs- und Management-Positionen trotz gleicher oder auch besserer Qualifikation erschwert (vgl. Böing 2009:215). Wenn Ungleichheit wie von Raphael Beer (2004:28; Herv. i. Org.) als „unterschiedliche Lebenschancen bzw. -qualitäten“ definiert wird, kann im Bereich der Erwerbsarbeit also von einer geschlechtlich induzierten Benachteiligung von Frauen gesprochen werden.

Dies zeigt sich in verschiedenen, auch langfristigen, Auswirkungen unter anderem im finanziellen Bereich: So liegt die Differenz zwischen den durchschnittlichen Bruttoverdiensten von Männern und Frauen, also der unbereinigte Gender Pay Gap, momentan bei ca. 21% (Hobler, Pfahl 2019). Hier wird deutlich, welchen Einfluss der hohe Teilzeitanteil, die schlechter bezahlten Berufsbranchen sowie die geringeren Hierarchieebenen auf das absolute Gehalt von Männern und Frauen haben. Doch auch in vergleichbaren Positionen verdienen Frauen weniger als Männer: Der bereinigte Gender Pay Gap beträgt aktuell ca. 7% – Frauen bekommen also im Schnitt 7% weniger Gehalt als Männer für die gleiche Arbeit. Dieser Gender Pay Gap hat zum einen Einfluss auf die finanzielle Situation von Frauen im Berufsleben und dadurch auch auf die Dynamik innerhalb der Paarbeziehung – viele heterosexuelle Paare geben beispielsweise den geringeren Verdienst der Partnerin als Grund dafür an, dass sie einen großen Teil der Elternzeit übernimmt, was zu einer weiteren massiven Vergrößerung der Einkommenslücke zwischen den Partner*innen führt (vgl. Wimbauer 2012; Koppetsch, Speck 2015). Doch der Gender Pay Gap wirkt auch über das Berufsleben hinaus – ein geringeres Einkommen resultiert nämlich auch in einer geringeren Rente. So bekommen Frauen heute im Schnitt nur 60% der Rente, die Männer erhalten, was wohl vor allem auf langjährige Phasen in Teilzeit- oder ohne bezahlte Beschäftigung zurückzuführen ist. Die teils extrem geringe Rente von bis zu unter 200 € im Monat kann besonders für alleinstehende Frauen, Frauen mit behandlungsdürftigen Krankheiten oder Frauen, die in teuren Städten wohnen, in massiven Problemen in der Lebensführung resultieren (vgl. Götz 2019).

Ein Mensch betrachtet ein Sparschwein aus der Nähe.
Frauen bekommen im Schnitt 7% weniger Gehalt als Männer bei gleicher Leistung.
Bild: pixaby.com

Doch wie kommt es, dass diese Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in der Gesellschaft auch in Zeiten der rechtlichen Gleichstellung noch so hartnäckig bestehen bleibt? Und sind Frauen nicht selbst schuld daran, dass sie sich oft in wenig lukrativen Berufen wiederfinden, mehr Hausarbeit erledigen oder wegen der Kinder in Teilzeit gehen? Eine eindeutige Erklärung für die ungleichen Lebenswege von Frauen und Männern zwischen Biologie und Sozialisation kann es wohl nie geben, da diese beiden Faktoren sich ständig gegenseitig beeinflussen und wechselwirken. Doch gibt es einige Hinweise darauf, welchen Einfluss die Erziehung und Sozialisation schon im frühesten Kindesalter auf die spätere Lebenssituation von Jungen und Mädchen haben kann. So gibt es Studien, die zeigen, dass Kinder von Erwachsenen unterschiedlich behandelt und angesprochen werden, je nachdem ob sie als Mädchen oder als Junge wahrgenommen werden (vgl. Eliot 2009). So werden Jungen eher ermutigt, ihren Körper sportlich einzusetzen, mit Logik fördernden Spielzeugen zu spielen oder Risiken einzugehen (vgl. Morrongiello, Dawber 2000), während mit Mädchen mehr Blickkontakt aufgebaut wird und emotional-soziale Kompetenzen durch Gespräche und Spiele aufgebaut werden (vgl. Leaper et al. 1998). Dies geschieht meist unbewusst, und ein abweichendes Verhalten der Kinder wird bereits früh unterbunden (vgl. Eliot 2009). Kinder lernen also schon in jungem Alter, welches Verhalten für sie angemessen ist und welches nicht, was sie sich zutrauen können und wie ein ‚normaler‘ Lebensweg für sie aussehen könnte, was in eben jener Ungleichheitsstruktur resultiert, die oben beschrieben wurde.

Wie kann die Pädagogik nun also diesen Entwicklungen entgegenwirken? Wie eine Studie zeigte, ist vor allem das deutliche Aufzeigen von Geschlecht im Erziehungskontext verantwortlich für die Entwicklung von Stereotypen bei Kindern und Jugendlichen. So bekamen die Erzieher*innen die Anweisung, ihre Gruppe explizit nach Geschlecht anzusprechen und aufzuteilen, um die Kategorie Gender bei den Jugendlichen relevant zu machen. Bereits nach zwei Wochen konnte festgestellt werden, dass eine stärkere Abgrenzung zum ‚anderen‘ Geschlecht vorgenommen wurde und stereotypere Annahmen über dasselbe geäußert wurden (vgl. Hilliard, Liben 2010). Eine konsequente Mischung von Gruppen und die nicht-geschlechtliche Aufteilung von Aktivitäten können also Wege sein, geschlechtliche Stereotype abzubauen. Auch die Aufklärung darüber, was Männer und Frauen verbindet und dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede in Bezug auf Intelligenz, Vorlieben und emotional-sozialer Kompetenz zwischen den Geschlechtern gibt, scheint die Abgrenzung zum ‚anderen‘ Geschlecht zu verringern (vgl. Hyde 2005).

Sieben gezeichnete Menschen stehen in einer Reihe hinter einander. Sie strecken alle ihren Arm aus und zeigen einen Daumen nach oben.
Geschlechtergemischte Gruppen helfen dabei, Stereotype abzubauen.
Bild: pixabay.com

Wie in diesem Artikel also dargelegt wurde, ist ein geschlechtlicher Fokus in der Pädagogik aus zwei Gründen essentiell für die Entwicklung und den späteren Lebensweg von Kindern und Jugendlichen: Zum einen kann klar nachgewiesen werden, welchen Einfluss das Verhalten und das Feedback von Erwachsenen gegenüber jungen Menschen hat. Assoziationen und Stereotypen zu Geschlecht werden bereits im kleinsten Kindesalter aufgebaut und haben Einfluss darauf, welche Vorlieben und Kompetenzen Kinder entwickeln und welche Bereiche sie als fremd empfinden. Dies hat zum anderen einen großen Einfluss auf die spätere Berufswahl und die damit einhergehenden Faktoren wie finanzielle Vergütung, gesellschaftliches Ansehen und Aufteilung der unbezahlten Sorge- und Hausarbeit – was unter anderem zu einer anhaltenden Abwertung ‚weiblich‘ konnotierter Berufsfelder und zu einem Gender Pay Gap führt, der auch im Alter noch in existenziellen Problemen resultieren kann. Die Basis für diese Entwicklungen wird also bereits im Kindesalter meist unbewusst und ohne böse Absicht von erwachsenen Bezugspersonen geschaffen – durch eine geschlechtersensible Pädagogik kann man aufkeimenden Stereotypen jedoch entgegenwirken und den Kindern und Jugendlichen einen flexibleren Lebensweg frei von geschlechtlich vorgegebenen Normen bereiten.

Bibliographie

Beer, Raphael (2004) ‘Demokratie als normative Prämisse der Ungleichheitsforschung’, in Peter A. Berger and Volker H. Schmidt (eds) Welche Gleichheit, welche Ungleichheit?, pp. 27–47. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Böing, Susanne (2009) Grundlagen zur Geschlechts- und Genderproblematik in Unternehmen. Lohmar: Josef Eul Verlag.

Bundesagentur für Arbeit (2018) Die Arbeitsmarktsituation von Frauen und Männern 2018, https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Personengruppen/generische-Publikationen/Frauen-Maenner-Arbeitsmarkt.pdf (zuletzt geprüft am 8 Aug 2019).

Eliot, Lise (2009) Pink Brain, Blue Brain: How Small Differences Grow Into Troublesome Gaps – And What We Can Do About It. Boston: Mariner Books.

Gleichstellungsbericht (2017) Erwerbs- und Sorgearbeit gemeinsam neu gestalten: Gutachten für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, https://www.bmfsfj.de/blob/117916/7a2f8ecf6cbe805cc80edf7c4309b2bc/zweiter-gleichstellungsbericht-data.pdf (zuletzt geprüft am 31 Jul 2019).

Götz, Irene, Hrsg. (2019) Kein Ruhestand: Wie Frauen mit Altersarmut umgehen. München: Kunstmann.

Hilliard, Lacey; Liben, Lynn (2010) ‘Differing levels of gender salience in preschool classrooms: effects on children’s gender attitudes and intergroup bias’, Child development 81(6): 1787–98.

Hobler, Dietmar; Pfahl, Svenja (2019) Gender Pay Gap 2006 – 2018, https://www.boeckler.de/52854.htm (zuletzt geprüft am 31 Jul 2019).

Hyde, Janet Shibley (2005) ‘The gender similarities hypothesis’, The American psychologist 60(6): 581–92.

Koppetsch, Cornelia; Speck, Sarah (2015) Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist: Geschlechterkonflikte in Krisenzeiten, 1st edn. Berlin: suhrkamp.

Leaper, Campbell; Anderson, Kristin; Sanders, Paul (1998) ‘Moderators of gender effects on parents’ talk to their children: a meta-analysis’, Developmental psychology 34(1): 3–27.

Leuze, Kathrin; Strauß, Susanne (2009) ‘Lohnungleichheiten zwischen Akademikerinnen und Akademikern der Einfluss von fachlicher Spezialisierung, frauendominierten Fächern und beruflicher Segregation’, Zeitschrift für Soziologie 38(4): 262–81.

Morrongiello, Barbara; Dawber, Tess (2000) ‘Mothers’ responses to sons and daughters engaging in injury-risk behaviors on a playground: implications for sex differences in injury rates’, Journal of experimental child psychology 76(2): 89–103.

Villa, Paula-Irene (2009) ‘Feministische- und Geschlechtertheorien’, in Georg Kneer and Markus Schroer (eds) Handbuch Soziologische Theorien, pp. 111–32. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Waters, Lea; Moore, Kathleen (2002) ‘Predicting self-esteem during unemployment: The effect of gender, financial deprivation, alternate roles, and social support’, Journal of Employment Counseling 39(4): 171–89.

Wetterer, Angelika (2005) ‘Rhetorische Modernisierung und institutionelle Reflexivität.: Die Diskrepanz zwischen Alltagswissen und Alltagspraxis in arbeitsteiligen Geschlechterarrangements.’, FZG–Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien 11(16).

Wimbauer, Christine (2012) Wenn Arbeit Liebe ersetzt: Doppelkarriere-Paare zwischen Anerkennung und Ungleichheit. Frankfurt am Main: Campus.

Geschlechtergerechtes Arbeiten – Warum eigentlich?

Ein Kind im Regenbogenpulli schaukelt auf einer Hängematte.
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