Vorurteilsbewusste (medien-)pädagogische Arbeit

Ein Artikel von: Mona Kheir El Din
Foto der gebastelten Produkte.e für eine Fotoausstellung religiöser Gegenstände

Vorurteilsbewusstsein und der Anti-Bias-Ansatz

Vorurteile sind ständig präsent, jeder hat sie, sie sind alltäglich, auch wenn Integration, schon lange, und Inklusion kürzlich in aller Munde ist. Damit die Vorurteile nicht Herr über unser Denken und Handeln werden, müssen wir uns unserer Voreingenommenheiten bewusst werden, dann können wir auch gegen sie aktiv werden. Der Anti-Bias-Ansatz ist ein pädagogischer Ansatz der Anti-Diskriminierungsarbeit, der als Werkzeug zur Reflexion genutzt werden kann. „Anti-Bias“  kann im Deutschen mit „gegen Voreingenommenheit“ oder „vorurteilsbewusst“ übersetzt werden. Ursprünglich wurde der pädagogische Ansatz von Louise Derman-Sparks in den USA entwickelt und in Südafrika und später auch in Deutschland weiter entwickelt (vgl. Gramelt 2010). Anti-Bias legt den Fokus nicht (nur) auf die Diskriminierten, sondern ganz bewusst auf die diskriminierenden Strukturen, die es zu bekämpfen gilt (vgl. ebd.). Derman-Sparks entwickelte ein pädagogisches Curriculum, welches Kinder ermächtigt und befähigt, gegen Vorurteile vorzugehen (ebd., S.103). Zusammenfassend verfolgt Derman-Sparks damit vier Ziele: „Curriculum goals are to enable every child to construct a knowledgeable, confident self identity; to develop comfortable, empathetic, and just interaction with diversity; and to develop critical thinking and the skills for standing up for oneself and others in the face of injustice.” (Derman-Sparks 1989, ix)“. Für die Fortbildungspraxis von pädagogischen Fachkräften hat das Institut für den Situationsansatz daraus vier Ziele definiert, die weiter unten kurz beschrieben sind. Auch wenn der Anti-Bias-Ansatz für die Anwendung in der frühen Bildung vorgesehen war, so ist dieser Ansatz übertragbar auf verschiedene Bildungskontexte, ja sogar auf die Zusammenarbeit von Teams in unterschiedlichen Kontexten. Da Begriffe, die mit „Anti“ anfangen, in der deutschen Sprache negativ konnotiert sind, wird hier die deutsche Übertragung „vorurteilsbewusst“ genutzt.

Vielfalt ist selbstverständlich

In sozialen Gemeinschaften – so auch in Kinder- und Jugendgruppen – spielen Haltungen und Bewertungen gegenüber Menschen eine wichtige Rolle. Sie beziehen sich auf unterschiedliche körperliche oder soziale Merkmale. Kinder erfahren schon sehr früh, wo sie und ihre Familien im Rahmen der gesellschaftlichen Hierarchien zugeordnet werden (vgl. Kheir El Din 2014).

Gleichzeitig ist der Zugang zu kultureller Bildung und somit auch zu medienpädagogischer Bildung für benachteiligte Gruppen erschwert, denn nach wie vor werden sie als Problemgruppen angesehen. Kulturelle Angebote, die die Vielfalt einbeziehen, sind eher Randerscheinungen oder „punktuelle Bildungs- und Vermittlungsprogramme für sozial benachteiligte Gruppen…“ (Wimmer 2015, S. 22). Es bedarf also eines neuen Verständnisses kultureller Bildung, dessen Strukturen die kulturelle Vielfalt aller sozialen Gruppen einbezieht, ihnen den Zugang ermöglicht und dessen Inhalte vorurteilsbewusst gestaltet sind. Vorurteilsbewusste kulturelle Bildung – nach dem Anti-Bias-Ansatz – kann und soll Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten bieten, sich auszudrücken und damit ihre Lebensgestaltung positiv zu beeinflussen. Sie kann jedoch nicht als Allheilmittel sozialer Probleme verstanden werden, denn es geht „zuallererst um die Verbesserung der Umstände, in denen sie ihre kreativen Qualitäten zu realisieren vermögen“ (Keuchel 2015, S.48 nach Wimmer 2013).

Vorurteilsbewusstes Lernumfeld

Nach dem Institut für den Situationsansatz (vgl. ebd. 2018 und Kheir El Din 2014) sind es vier Ziele:

  • Sich der eigenen Identität und Bezugsgruppenzugehörigkeit und derer der Kinder und Jugendlichen bewusst werden: Es ist wichtig, dass alle Bezugspersonen von Heranwachsenden – so auch Medienpädagog*innen – sich ihrer Vorurteile, die sie durch ihre Sozialisierung und ihre Erfahrungen gelernt haben, bewusst werden und versuchen, sie Stück für Stück wieder zu verlernen, denn Kinder- und Jugendgruppen sind ein Ort, an dem Menschen unterschiedlicher Voraussetzungen, Lebenseinstellungen und Familienkulturen zusammen kommen. Alle haben die gleiche Daseinsberechtigung und sollten ihre Berücksichtigung in der Einrichtung finden.
  • Respekt für Vielfalt entwickeln – Wertschätzung zeigen: Alle Heranwachsenden haben ein Anrecht darauf, dazuzugehören. Sie alle haben Fähigkeiten, die sie besonders machen und die sie in die Gestaltung des Zusammenlebens und in die Bewältigung von Problemen einbringen können.
  • Kritisches Denken anregen – fairen Umgang mit Vielfalt ermöglichen: Außerdem sind Kinder- und Jugendgruppen auch Lernorte für den Umgang mit Vielfalt. Hier können alle Beteiligten den Umgang mit Neuem und Ungewohntem lernen und positive Erfahrungen im Zusammenwirken unterschiedlicher Personen machen.
  • Sich ausgrenzenden Strukturen widersetzen: Für einen selbstverständlichen und positiven Umgang mit Vielfalt ist es aber auch notwendig, ausgrenzende und segregierende Strukturen zu verändern. Hier muss noch viel getan werden, denn Benachteiligte werden als „Problemgruppen“ identifiziert und, wenn die Strukturen es zulassen, auf bestimmte Plätze (Schulen, Stadtteile, soziale Möglichkeiten) verwiesen.

Beispiele vorurteilsbewusster Medienarbeit

Die Beispiele, die hier vorgestellt werden, hat die Autorin im Rahmen der vorurteilsbewussten medienpädagogischen Arbeit bei der Fachstelle für interkulturelle Bildung und Beratung – FiBB e.V. in Bonn konzipiert und umgesetzt.

Entstanden sind die medienpädagogischen  Kinder- und Elternbildungsprogramme „MedienFit-SprachFit“ und „MedienFit-InternetFit“. Das Programm „In unseren Sprachen lesen“ ist für Kinder im Elementar- und Grundschulbereich, das medienpädagogische Programm „BuBiTo – Buchstabe, Bild und Ton“ und das interreligiöse medienpädagogische Programm „Meine Religion in Text, Bild und Ton“. Diese wurden in vielen Bonner Schulen und Kindertagesstätten umgesetzt, um Familien mit anderen Familiensprachen, als Deutsch, den Zugang zu Informationen zu erleichtern.

Das Programm „MedienFit“ beruht auf einem ganzheitlichen medienpädagogischen Ansatz, der Eltern und Kinder einbezieht: Die Medienerziehungskompetenz von Eltern wird gestärkt und die medienpädagogische Bildung ihrer Kinder gefördert. Es wird mehrsprachig angeboten und findet im sozialen Nahraum statt.  „MedienFit-SprachFit“ ist ein mehrsprachiges Programm für Eltern von Kindern im Alter von fünf bis sieben Jahren. Die Eltern werden einmal wöchentlich zu den Themen Lesen, Fernsehen, Hörmedien, erste Schritte ins Internet, digitale Spiele und alternative Freizeitgestaltung geschult. In diesem Programm wird großen Wert auf mehrsprachige Literalität gelegt. Die Kinder profitieren von den vorbereiteten, zweisprachigen Eltern-Kind-Aktivitäten zu Hause. Im weiterführenden Programm „MedienFit-InternetFit“ befassen sich Eltern und Kinder mit den Themen Verhalten im Internet, Privatsphäre/Datenschutz und Werbung/Propaganda im Internet. Die Kinder nutzen die vorbereiteten, zweisprachigen Eltern-Kind-Aktivitäten zu Hause, um mit ihren Eltern über das Thema Internet ins Gespräch zu kommen. Wichtige Ziele sind der bewusste Umgang mit persönlichen Daten im Internet, ein Rechtsbewusstsein im Internet zu schaffen und die Unterscheidung zwischen Information, Propaganda und Werbung bewusst zu machen.

Das Programm „Buchstabe, Bild und Ton“ (BuBiTo) dient der Förderung von mehrsprachiger Literalität und Medienkompetenz für Kinder im Alter drei bis zehn Jahren. Realisiert wurde dieses Projekt durch unterschiedliche Medienworkshops für Kinder verschiedener Familiensprachen mit ihren Eltern. So wurden z.B. selbst hergestellte Bücher, Fotoarbeiten, Hörgeschichten oder Trickfilme produziert. Bei BuBiTo erfahren die Eltern, wie Kinder sich aktiv und mit Spaß auf das kreative Arbeiten mit Medien einlassen und werden nicht selten von ihrer Begeisterung angesteckt. Die Kinder lernen, den Medien auf den Zahn zu fühlen, hinter die Kulissen zu schauen und vielerlei Geheimnisse zu lüften und erleben sich selbst als kompetente Medienmacher*innen und -nutzer*innen und nicht nur als passive Konsument*innen. Medienerziehungstipps fließen dabei beiläufig ein.

Alle Workshops beziehen die gesellschaftliche Vielfalt ausdrücklich ein.

Das medien- und religionspädagogische Projekt „Meine Religion in Text, Bild und Ton“ gibt muslimischen Kindern und deren Eltern die Möglichkeit, sich mit ihrer Religion in Bezug auf andere abrahamitische Religionen und in Bezug auf das Zusammenleben in Vielfalt auseinander zu setzen. Die einmal wöchentlich stattfindenden Workshops fanden in der Bonner Al-Muhajirin-Moschee statt, die aus mehreren Gründen bewusst als Veranstaltungsort gewählt wurde, vor allem aus der Überzeugung heraus, dass Moscheen als Orte der (kulturellen) Bildung anerkannt werden müssen, um ihnen und den muslimischen Familien echte (kulturelle) Teilhabe zu ermöglichen. Unterschiede zwischen den verschiedenen abrahamitischen Religionen wurden aufgezeigt und in Ausflügen zu einer evangelischen Kirche und der Synagoge in Bonn erfahren. In einem weiteren Durchlauf in 2015 wurden die Pfarrer der katholischen und evangelischen Gemeinden in Bonn-Tannenbusch und der Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Bonn in die Moschee eingeladen, damit die Kinder sie und einen der muslimischen Prediger der Moschee interviewen konnten. In den Workshops wurden unterschiedliche Medienprodukte erzeugt: Selbst gestaltete Bilderbücher zum Thema Vielfalt, eine Fotoausstellung zum Thema Gotteshäuser, ein 3D-Trickfilm mit Knetfiguren zur Geschichte des Propheten Ibrahims, dem Stammvater der drei abrahamitischen Religionen.

Vorurteilsfreie Programme

Elterngruppen finden möglichst dort statt, wo sich die Eltern ohnehin häufig aufhalten, d.h. in Schule, OGS oder KiTa, MSO-Räume oder Gotteshaus, damit die Gruppe für jede*n erreichbar ist. Doch bisherige übliche Kooperationen in sogenannten Bildungslandschaften zeigen, dass Migrantenorganisationen dort keine aktive Rolle einnehmen (Kelb 2015). Hier gilt es, Hemmungen zu überwinden und neue Wege zu beschreiten, auch wenn sie mühselig sind.

Teilnehmende Eltern werden mit ihren Familienkulturen und in ihren Individualitäten anerkannt. In den Gruppen können alle Sprachen präsent sein und es wird dafür gesorgt, dass genügend Zeit vorhanden ist, sodass jede*r Teilnehmende alles versteht. Dafür sorgen mehrsprachige Elternbegleiter *innen. Sie kommen aus unterschiedlichen Communities und sind wichtige Mittler*innen in einem gesellschaftlichen Netzwerk und dienen dem Zusammenhalt einer Gesellschaft, die aus unvermittelten Einzelteilen besteht (vgl. Wimmer 2015).

Vermeintliche „Normalitäten“ in Bezug auf Sprache, Aussehen, Familienleben, Werte und Lebensgestaltung werden in den stattfindenden Gruppen hinterfragt.

Familien werden über Medienerziehung informiert, ohne ihre jeweilige Familienkultur oder ihren Umgang mit Medien zu kritisieren. Unterschiedliche erzieherische Methoden zur Eingrenzung des passiven Medienkonsums werden als gegeben akzeptiert, besprochen und ausprobiert, sodass jede Familie ihr Gesicht wahren kann und gleichzeitig die für ihre Familie geeignete erzieherische Methode auswählen kann.

Medienangebote in verschiedenen Sprachen werden thematisiert und spezifische Themen, die für die teilnehmenden Eltern von Interesse sind, werden besonders hervorgehoben – beispielsweise Sprachenförderung durch Medien. Keuchel hat 2012 in einer Bevölkerungsumfrage herausgefunden, dass besondere kulturelle Begebenheiten einer kulturellen Gruppe einen wichtigen Stellenwert bezüglich kultureller Interessen einnehmen, gleichzeitig aber zugewanderte Gruppen verschiedene kulturelle Identitätsbezüge als für sie relevant nutzen (vgl. Keuchel 2012). Für medienpädagogische Projekte bedeutet das, unterschiedliche Identitätsbezüge zuzulassen, wertzuschätzen und inhaltlich einzubeziehen.

Bereitgestelltes Material wurde in verschiedenen vor Ort häufig gesprochenen Sprachen übersetzt, damit möglichst viele Eltern bei Interesse teilnehmen können. Die Sprache und Ausdrucksweise in den Materialien ist dabei möglichst einfach gestaltet – Leichte Sprache ist für (fast) jede*n verständlich – auch für Akademiker*innen. Aber auch Eltern, die nicht lesen und schreiben können, werden einbezogen. Die Elternbegleitenden erläutern alle Inhalte und Themen mündlich und zeigen praktisch, worum es geht.

Teilnehmende Eltern und ihre Kinder erhalten die Möglichkeit, kostenlos mehrsprachige Bücher auszuleihen. So können alle Familien gute Kinderbücher in ihren Familiensprachen lesen, unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen.

Eingesetzte Materialien sind nach vorurteilsbewussten Kriterien ausgewählt. In Büchern, Texten und Bildern ist die Vielfalt unserer Lebensweisen (Aussehen, Familienkulturen, Sprachen, Religionen, Alter, Geschlecht, körperliche/geistige Verfassung etc.) sichtbar und als alltäglich und normal dargestellt.

MedienFit – mehrsprachige Bücher; Quelle: FiBB e.V.

Fazit

Praktische vorurteilsbewusste (medienpädagogische) Arbeit bedeutet also, die eigene Haltung immer wieder zu reflektieren und Schwellen für Benachteiligte zu erkennen und zu beseitigen, sodass jede*r an Bildungs- und kulturellen Angeboten teilhaben kann. Und es bedeutet, Materialien zu nutzen, die alle ebenbürtig einbeziehen.

Ein solcher Ansatz benötigt nicht unbedingt mehr Ressourcen, sondern den Willen, diesen Weg zu gehen.

Links

Literatur

  • Derman-Sparks, Louise and the A.B.C. Task Force (1989): Anti-Bias-Curriculum. Tools for empowering Young Children. Washington D.C.: National Association for the Education of Young Children
  • Gramelt, Kajta (2010): Der Anti-Bias-Ansatz. Zu Konzept und Praxis einer Pädagogik für den Umgang mit (kultureller) Vielfalt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
  • Institut für den Situationsansatz/Fachstelle Kinderwelten (Hrg.) (2018): Inklusion in der Fortbildungspraxis. Lernprozesse zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung begleiten. Ein Methodenhandbuch. Berlin: Was mit Kindern GmbH.
  • Kelb, Viola (2015): Lokale Bildungslandschaften und Diversität. Durch vielfältige Kooperationen zu einer vielfältigen Bildungspraxis? In: Keuchel, Susanne und Kelb, Viola (Hrg.): Diversität in der kulturellen Bildung. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 75-88
  • Keuchel, Susanne (2012): Das 1. InterKulturBarometer. Migration als Einflussfaktor auf Kunst und Kultur. Köln: ARCult Media.
  • Keuchel, Susanne (2015): Diversität, Globalisierung und Individualisierung. Zur möglichen Notwendigkeit einer Neuorientierung in der Kulturpädagogik. In: Keuchel, Susanne und Kelb, Viola (Hrg.): Diversität in der kulturellen Bildung. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 38-57
  • Wimmer, Michael (2018): Kulturelle Bildung in Zeiten wachsender Unterschiede. In: Keuchel, Susanne und Kelb, Viola (Hrg.): Diversität in der kulturellen Bildung. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 15-36

Autor*in und Bilder: Mona Kheir El Din

Vorurteilsbewusste (medien-)pädagogische Arbeit

Ein Artikel von: Mona Kheir El Din
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Autor*in und Bilder: Mona Kheir El Din

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